Kritiken


„Auge“ in der Rezeption (Auszüge aus Zeitungen und dem "Lexikon der Kriminalliteratur")
Klaus Seehafer: „Er wird etwas zerstören müssen“. Klaus Nührigs Schulroman „Auge“ zeigt die Kälte der gesamten Gesellschaft (Das Buch der Woche)



„Auge“ in der Rezeption (Auszüge aus Zeitungen und dem "Lexikon der Kriminalliteratur")


Ein repräsentativer Querschnitt aus den Rezensionen zum Roman ergibt, dass immer wieder dessen Qualität, aktuelles Schulleben darzustellen, gelobt wird. Für die Brisanz des Stoffes spricht aber auch die drastische Ablehnung des Romans durch Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Groß Ilsede, die sich in einem Leserbrief an die Braunschweiger Zeitung sowie noch zwei Jahre nach dem Erscheinen des Romans in einer Abizeitung niederschlug. Beide Tendenzen sollen in Auszügen vorgestellt werden.

Die erste Rezension zu „Auge“ brachte die Peiner Allgemeine Zeitung am 3.4.2002. Darin schreibt Ernst Matthaei: „(...) Die Wiedergabe des Plots klingt banal. Sie geht an der Dichte und Dringlichkeit der Handlung und der Reflexionen vorbei. Das Buch will zum Engagement für menschliche Würde und Gerechtigkeit aufrufen. Es ist kein Jugendbuch, wenn auch die Protagonisten Jugendliche sind. (...) Das Problem ist letztendlich der Verfall der Werte - nicht nur bei den Jugendlichen, sondern auch bei der Erziehergeneration, die zudem nicht den Mut hat, der Fun-Generation tradierte Grundsätze entgegenzuhalten. Demokratie ist nur noch Fassade. Das Buch macht traurig, aber es ruft auch zu mehr Mut auf.“

Über eine Lesung berichten am 4.5.2002 die Peiner Nachrichten: „Der Ilseder Lehrer Manfred Unruh brachte die Problematik auf den Punkt: ‚Vor drei Jahren hätte bezüglich des Inhalts der auch im Buch beschriebenen Faust-Parodie am GGI ein Aufschrei durch das Kollegium gehen müssen, doch die Lehrer haben geschwiegen. Nun erkennen sich einige im Roman wieder und beschweren sich. Die Reaktionen hätten umgekehrt sein müssen.’ (...) Die Reaktionen waren bei den Besuchern gemischt. Die Kritiker schwiegen, von dem Rest erntete der Autor großen Beifall für sein erstes Prosawerk, das eine Schulwirklichkeit beschreibt, in der es an Courage und Moral mangelt. (...)“

Das Jeversche Wochenblatt bringt am 1. Juni 2002 ein ausführliches Interview mit dem Autor und eine Rezension des Romans. In der Rezension heißt es: „Wie weit kann Schule gehen? Kann ein Schüler so sehr darunter leiden, dass er seinem Leben ein Ende setzt? Was ist in Erfurt passiert? Fast schon unheimlich aktuell erschien das Buch mit dem Titel ‚Auge’ von Klaus Nührig kurz nach den Ereignissen an dem Erfurter Gymnasium. (...) Klaus Nührig ist es mit diesem Roman gelungen, die Realität an deutschen Schulen einzufangen, trotz seines Lehrerberufs nicht zu beschönigen. Neben dem aktuellen Thema Gewalt bietet ‚Auge’ aber weit mehr: Die Figur Jan Steinhorst, die sich finden muss, das Thema Scheidung, die Rolle der Eltern, der Zwiespalt zwischen Freunden und Liebe - all das hat Klaus Nührig verarbeitet. Wer bei Kriminalromanen an Mord und Totschlag denkt, ist hier schief gewickelt. Die seelische Grausamkeit ist es, die den Leser am meisten erschreckt. Spannend wird das Buch durch die Mixtur aus fiktiven Texten wie Leserbriefen, Gedichten und Jans Tagebuch. Auch den sexistischen Text scheut Nührig sich nicht nur anzudeuten, sondern auch zu schreiben. Ein Buch längst nicht nur für Schüler und Lehrer gedacht, sondern für alle, die mehr über zwischenmenschliche Beziehungen wissen wollen: Lektüre ausdrücklich empfohlen.“

Die Hildesheimer Allgemeine Zeitung kommentiert am 29.8.2002 eine Lesung mit den Worten: „Ausgangspunkt der Romanhandlung ist der Tod der Schülerin Kerstin. Kerstin, ein couragiertes Mädchen, das sich sogar öffentlich mit dem Schulleiter eines fiktiven 'Heinrich-Heine-Gymnasiums' angelegt hatte und dessen politische Ambitionen zu gefährden drohte, wird tot aufgefunden. Die Zuschauer reagierten unterschiedlich auf Nührigs Text. Einigen fiel es sichtlich schwer, die Brutalität der vorgeführten Sprache zu ertragen. Als mutig wurde es empfunden, dass Nührig, selbst Lehrer für Deutsch, Religion und Politik an einem niedersächsischen Gymnasium, so hart mit seinen Berufskollegen ins Gericht geht. Hieran entzündete sich auch eine lebendige Debatte über die Aufgaben von Pädagogen in der heutigen Zeit. Vermittlung und Vorleben von Wertvorstellungen, Courage und Moral wurden ebenso gefordert wie Interesse an dem Unterrichtsgegenstand, der vermittelt werden soll. Eine pointierte Zusammenfassung lieferte die Schulelternratsvorsitzende Maria Kaluza: Natürlich müssen Lehrer keine Heldentaten wie Romanfiguren begehen, aber ‚sie sollten berührbar bleiben von den Texten, die sie besprechen, und von den Schülern, mit denen sie zu tun haben’, so Kaluza.“

In der Elzer Ausgabe der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung heißt es am 23. August 2002: „Die vermeintlich progressiven Pädagogen leisten unter dem Deckmäntelchen einer falsch verstandenen Liberalität und Fortschrittlichkeit frauenfeindlichem Gedankengut Vorschub, und die dem Vorwurf der Prüderie ausgesetzte Kerstin erweist sich als die einzige Person mit Zivilcourage. Über diese verfügt die große Mehrheit der von Nührig gezeichneten Lehrerfiguren nicht: Artig lässt sich ein Teil des Kollegiums von feiernden Abiturienten in KZ-Uniform zwängen und macht gute Miene zum bösen Spiel - dieselben Kollegen, die im Deutschunterricht den Freiheitskampf Wilhelm Tells und die Größe des schillernden ‚Räubers’ Karl Moor preisen.“

Gudrun Schmelz schreibt im Lexikon der Kriminalliteratur (40.Erg./Februar 2003): „(...)Während Amokläufe an deutschen Schulen das öffentliche Bewusstsein wachzurütteln pflegen, werden Schüler-Selbstmorde in der Regel totgeschwiegen. Klaus Nührig nimmt sich des Themas an, erzählt engagiert von den Problemen des Erwachsen-Werdens und wirbt um Verständnis für Jugendliche auf der Suche nach der eigenen Identität und ihrem Platz in der Gesellschaft. Mörder im Sinne des klassischen Kriminalromans gibt es nicht: Eltern und Erzieher, viele tragen Mitschuld. Kerstin und Jan sind beide Produkte elterlicher Erziehung. Kerstin hat Zivilcourage von der allein erziehenden Mutter gelernt, Jan dagegen kann nicht offen zu sich selbst oder seinem Partner stehen, da er sich von den Eltern weder bedingungslos geliebt noch angenommen fühlte. Die Jugendlichen scheitern, weil sie den Konflikt zwischen Idee und Wirklichkeit nicht auflösen können. Pragmatiker und Opportunisten wie Tim überleben dagegen.“

In der Peiner Allgemeinen Zeitung heißt es am 4. 2. 2004: „Der Amoklauf von Erfurt oder die jetzt bekannt gewordenen Gewaltexzesse an der Hildesheimer Werner-von Siemens-Schule - dies sind Ereignisse, die sich ins Bewusstsein brennen. Gewalt kann aber auch viel subtiler, alltäglicher und überall sein. Darüber schreibt Klaus Nührig. (...) Die fiktive Geschichte spielt im Schulmilieu. Es geht um sexistische Sprache, deren Duldung, Verständnislosigkeit und Mobbing, die im Selbstmord der Schülerin Kerstin enden.“

Doch es gibt von Schülerseite aus auch ganz andere Stimmen.
Am 7. 8. 2002 erscheint in der Braunschweiger Zeitung unter der Überschrift „Wollen nicht Helden eines ‚Groschenromans sein“ ein Leserbrief, in dem fünf ehemalige Schülerinnen des Gymnasiums Groß Ilsede den Roman heftig kritisieren. (Mit Ausdrucks- und Grammatikfehlern übernommen.): „Sicher nur für Insider erkennbar, wird hier das Gymnasium Groß Ilsede mit (fast) allen beteiligten durch den Dreck gezogen und verleugnet. (...) Dieser Ähnlichkeit und einer falschen Frauendarstellung zum Trotz hab ich meine Schule in den vergangenen sieben Jahren ganz anders erlebt. Zusammen mit Hunderten von Mitschülern und Mitschülerinnen war dieser Ort für mich ein Ort geprägt von Vertrauen, Zuversicht und Geborgenheit, doch wird diese Tatsache in ‚Auge’ vom Autor bewusst ignoriert und falsch dargestellt. (...) Zu hoffen bleibt nur, dass einem Roman ohne literarische Besonderheiten und Highlights, wie ‚Auge’ es einer ist, und dem Hintergrund einer feigen, hinterhältigen, persönlichen Abrechnung keine zu große Bedeutung angemessen wird, und das eine gewollte, aber nicht gekonnte Fortsetzung ausbleibt.“

In der im Juni 2004 erschienenen Abizeitung des Gymnasiums Groß Ilsede wird diese Kritik noch weiter verschärft. Neben einer Kritik zum Roman „Auge“, von Carsten Fitting verfasst, der zu der Redaktion der United gehörte, die 1999 vom Kultusministerium ausgezeichnet wurde, erscheint anonym ein fiktiver Dialog mit dem Autor eines Romans, der den Titel „Nase“, „Ohr“ oder „Mund“ trägt. Dem Autor wird eine „hochneurotisch bis leicht psychopathische Sichtweise der Geschehnisse an deinem Arbeitsplatz“ vorgeworfen, und er wird aufgefordert, auf schnellstem Weg zum Psychiater zu gehen und sich helfen zu lassen, „bevor du am Ende noch irgendwelche Bücher schreibst, bei deren Lesen jeder normale Mensch einen Brechreiz bekommt.“

Der Abiturient Carsten Fitting schreibt zu „Auge“: „Nührigs Aussage also: ‚Der Suizid ist wieder kontemporär.’ Dies ist natürlich unstimmig und inkonsequent, denn Nührigs ‚Moral der Geschichte’ ist dadurch ‚Wehr dich nicht gegen die Mehrheit, du wirst daran zu Grunde gehen’ und somit der totale Widerspruch zu dem, was Nührig das ganze Buch über aufzubauen versucht. (...) Die Hauptperson ist in ‚Auge’ Kerstin Schwan, ein Mädchen, welches für Moral und gegen Korruption kämpft. Durch den Namen ‚Schwan’ wird Kerstin als edel, rein und unschuldig beschrieben. Dies ist auch adäquat, doch Nührig widerspricht sich wiederholt selbst. Wenn Kerstin der Inbegriff der Moral ist, warum hat sie dann ‚kein Gesicht’ (also keine Persönlichkeit und auch keine Glaubwürdigkeit)? Entweder dies ist unbeabsichtigt, dann begeht Nührig auf Seite 9 einen schweren und kapitalen Fehler, oder es ist beabsichtigt, dann ist dies eine unverzeihliche Inkonsequenz. Doch es kommt noch schlimmer: Auf Seite 15 schreibt Nührig: ‚Schwäne werden erst grau und dann weiß’. Dies impliziert, dass Kerstin ihre Unschuld erst erworben haben muss - aber Kerstin macht im ganzen Buch keine Veränderung zum Positiven durch. Und das war es immer noch nicht: Kerstin gefährdet durch die Art der Tötung das Leben anderer Menschen und ist demzufolge alles andere als der Inbegriff der Moral. Wie kann Nührig sie dann als beispielhaft und eine Art Märtyrerin (ihr Tod bewirkt allgemein Nachdenklichkeit und Schuldgefühle) darstellen? Dies ist schlichtweg fahrlässig.“



Klaus Seehafer: „Er wird etwas zerstören müssen“. Klaus Nührigs Schulroman „Auge“ zeigt die Kälte der gesamten Gesellschaft (Das Buch der Woche)
Oldenburgische Volkszeitung, 2. August 2002




Bücher haben ihre Geschichte. Diese hier wurde ausgelöst durch einen authentischen Fall, dennoch ist das Ganze kein Schlüsselroman. Auch authentisches Material muss arrangiert, ineinandergeschoben, verdichtet, pointiert werden. Dieser Autor weiß genau um die Grenzen seines Tuns, und wann immer uns eine Passage allzu überspitzt vorkommen mag, müssen wir uns vor Augen führen: Er ist niedersächsischer Gymnasiallehrer, er weiß Bescheid. Mittlerweile ist sein Roman, an der er lange gearbeitet hat, von einer grausigen Wirklichkeit überholt worden, ohne dass darum überholt worden ist, was hier angeprangert wird. Im Gegenteil: Durch die Tragödie von Erfurt hat er sogar eine schreckliche Aktualität erhalten. Hier wird kein Mord beschrieben, aber zwei Selbstmorde, ausgelöst durch eine menschliche Kälte, die nicht allein typisch für Schule ist, aber Schule ist – und kann nichts anderes sein – ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Kommissar Steinhorst muss den Unfalltod der 18jährigen Kerstin überprüfen, weil einiges für einen Selbstmord spricht. Vorangegangen ist diese Geschichte mit den Redakteuren der Schülerzeitung, die eine sexistische „Faust“-Version auf dem Niveau von Klosprüchen geschrieben und von einer pseudo-progressiven Deutschlehrerin dafür auch noch Lob erhalten haben. Kerstin ist gegen die Ferkelei vorgegangen, bis hin zum Schuldirektor, weshalb sie nun natürlich als Petze dastand. Und schließlich ist vom schweigsamen Jan die Rede, dem es schwer fällt, im rechten Moment Zivilcourage zu zeigen – und das, obwohl er Kerstin geliebt hat. „Wir hatten manchmal den Eindruck, dass er manches sieht, was wir nicht sehen, und er konnte sich vieles so gut merken.“ Darum wurde er „Auge“ genannt. Am Ende hängt er sich auf, weil er es nicht aushalten konnte, im entscheidenden Moment nicht genügend Widerstand geleistet zu haben.

Zwischen dem ersten und dem zweiten Tod entfaltet sich in Vor- und Rückblenden das Bild einer auf den Kopf gestellten Wirklichkeit: Die vermeintlich Progressiven sind in Wirklichkeit die dumpf Angepassten, und wer da als sexuell frustrierte Tucke in die Ecke gedrückt werden soll, ist in Wirklichkeit die Einzige, die wirklich Zivilcourage gezeigt hat. Obwohl doch alle Lehrer lauter Bücher lesen lassen, „in denen es darum geht, sich gegen den Opportunismus und die Charakterlosigkeit der Mitmenschen zu behaupteten: Wilhelm Tell, Die Räuber, Siegfried Lenz’ Deutschstunde.“

Es ist von Waffenspielereien die Rede und von Gedanken, die um Gewalt kreisen, derlei scheint an unseren Schulen verbreiteter zu sein, als wir uns eingestehen wollen. Ausgesprochen authentisch wirkt zum Beispiel die Episode mit dem Abiturfilmclip, in dem gezeigt wird, wie ein Schüler mit einer Jagdflinte alle im Hof abknallt, „einen Schüler nach dem anderen“. Ich möchte nicht hören, wieviele diese Szene vor Erfurt für himmelschreienden Blödsinn und billige Überspitzung gehalten hätten!

Ein Satz gegen Ende des Romans ist auf diese Weise unversehens zum Schlüsselsatz des ganzen Buches geworden: „Ich kann mir vorstellen, wie sehr Jan diese Schule hasst. Er wird etwas zerstören müssen, entweder die Schule oder sich selbst.“ Was im Mord explodiert, das implodiert gleichsam im Selbstmord. Es sind aber zwei Seiten ein und derselben Medaille – eine Münze, die es schnell und ersatzlos aus dem Verkehr zu ziehen gilt.

Klaus Nührigs „Auge“ ist ein Krimi, in dem es keine Täter zu entdecken gilt, sondern zu überlegen, warum sie so gehandelt haben. Es ist mithin ein psychologischer Roman, denn er fragt nach gesellschaftlichen und seelischen Hintergründen. Und, ja, eigentlich ist es auch ein Jugendbuch und zwar für Leser ab etwa 14 Jahren. „Der Untertan“ oder „Wilhelm Tell“ mag literarisch bedeutsamer sein – aber vielleicht ist „Auge“ gerade jetzt, gerade heute nötiger, not-wendender als solche Werke des literarischen Kanons. – Wie wäre es übrigens, wenn ganz viele Schülerzeitungen dieses Buch vorstellen würden?


KLAUS SEEHAFER


Klaus Nührig: Auge. Kriminalroman. Leer: Leda-Verlag 2002. 143 S., kart. 10,- €